Ein fliegendes Theater

„Dunkelheit und Enge. Mein schlimmster Albtraum ist wahr geworden. Wir liegen zu sechst in einem Kofferraum. 13 machmal 14 Personen werden von den Schleusern auf den Routen in einem Auto transportiert und nur ein Teil der Menschen passen vorn hinein. Nach dem ersten Rumpeln hoffe ich, dass

Schauspieler Sebastian Schäfer und Qais Amarkeel, Photo by Sebi Berens

wir bald da sind – Fehlanzeige. Bereits nach einer kurzen Zeit spüre ich meine Beine und meine Arme nicht mehr. Alles tut weh und ich wünsche mir, ich würde sterben. Nach einer unglaublich langen Zeit hält der Wagen an. Wir werden von den anderen aus dem Kofferraum gehoben, weil wir uns nicht mehr bewegen können. Dann werden wir an den Straßenrand gelegt, bis sich die Gliedmaßen wieder erholen und die Kraft wieder ein wenig zurückkehrt. Drei der sechs Männer sind mit mir bei Abfahrt in den Kofferraum eingestiegen. Jetzt am Straßenrand sind sie nicht mehr aufgestanden. Es muss ganz schnell gehen. Die Schlepper lassen die drei einfach am Straßenrand zurück“.

Die Worte kommen nur sehr leise über die Lippen. Die Lippen gehören Belal, einem jungen Mann aus Afghanistan, fast noch ein Kind. Er erzählt die Geschichte seiner Flucht, fast mechanisch und seltsam monoton kommen die Worte aus ihm heraus. Er erzählt seine Geschichte. Nicht irgendwem und nicht irgendwo: es ist der Moment seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Jeder, der in Deutschland um Asyl bittet, wird beim BAMF angehört. Ein Entscheider stellt zahlreiche Fragen, um anschließend festzulegen, ob das Asylgesuch berechtigt ist.

Das Beeindruckende daran ist, dass hier das Publikum ungewollt und ungefragt in die Rolle des BAMF versetzt wird. Stellvertretend formulieren wir die Fragen. Quälende Fragen. Neben Belal sitzt ein Übersetzer. Er gibt jedes Wort und jeden Satz wieder. An einigen Stellen fragt er zurück – zu unglaublich ist die Geschichte auch für seine Ohren. Er war lange Zeit in Afghanistan für die Bundeswehr als Übersetzer tätig. Es gibt einzelne Passagen, da stockt die Sprache von Belal, er bittet den Dolmetscher die niedergeschriebenen Zeilen vorzulesen.

Die Enge im Container und die karge Einrichtung unterstützen die starke Botschaft der gesamten Geschichte. Vorn ist eine kleine Bühne, gerade so ausreichend für zwei Personen. Knapp 50 Menschen passen in den 40-Fuß-Container. Soundcollagen, sparsame Projektion und sich überlagernde Stimmen unterstreichen die Dramatik der ausschließlich verbal geschilderten Szenen.

Uns wird erst jetzt wieder bewusst, dass wir gerade ein Theaterstück erleben.

Nach der anstrengenden Fahrt folgt für Belal und seine Mitreisenden die Festnahme und Haft in Bulgarien – viele Tage später und mit einer großen Ungewissheit werden sie entlassen und es gelingt die Weiterreise. Gemeinsam mit einem Freund erreicht er nach einem tagelangen Fußmarsch die ungarische Hauptstadt Budapest. Im Zug reisen sie „wie die Könige“ nach Deutschland. Bei Ihrer Ankunft in Stuttgart werden sie von der Polizei kontrolliert, darum sind sie in Stuttgart geblieben. Hier trafen sie später das erste mal auf die Theatergruppe Lokstoff!. Diese arbeitete gerade an einem Projekt und nach und nach entstand die Idee, die Fluchtgeschichte zu inszenieren.

Belal heißt in Wirklichkeit Qais. Seine Geschichte steht stellvertretend für eine ganze Generation von jungen Menschen, die die Flucht über die sogenannte Balkanroute gewagt haben und überlebten. Damit er nicht im Theaterstück seine eigene traumatische Geschichte wieder und wieder erzählen muss, stehen ihm sechs andere junge Männer zur Seite. Abwechselnd spielen sie das Stück und schlüpfen in seine Rolle. Insgesamt 9.000 Menschen haben das Stück bereits gesehen, gespielt wird überwiegend auf Schulhöfen oder an anderen Orten im öffentlichen Raum.

Kriminalkommissar Lampen, lokaler Koordinator für das Projekt in Weener, erfuhr vom Theaterstück und der einzigartigen Umsetzung in einem Container. Er schickte eine Mail an Lokstoff! Dort herrschte aufgrund der Mail von der Polizei großes Entsetzen. Ist etwas mit unseren Jugendlichen? Nach kurzer Verunsicherung kam die Entwarnung. Es ging um ein Engagement zum Projekt „Mit Sicherheit gut ankommen“. Für die Aufführungen in Weener und in Papenburg wurde der Container extra per LKW von Stuttgart aus angeliefert. Damit dieser auch im Hafen von Weener an die richtige Stelle kommt, wurde ein besonders großer Kran benötigt.

Wir wünschen dem „fliegenden Theater“ aus Stuttgart noch zahlreiche Aufführungen und jede Menge gute Gespräche rund um das Stück „Pass.Worte. Wie Belal nach Deutschland kam“.

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